Nordstadt

Insider verteidigt Polizei-Schüsse auf Dortmunder (16): „Haarsträubende Fehlannahme“

Waren fünf tödliche Schüsse auf einen Dortmunder (16) durch die Polizei richtig? Gegenüber RUHR24 verteidigt ein Insider die Einsatzkräfte.

Dortmund – Eine Woche nachdem ein Polizist bei einem Einsatz in der Nordstadt von Dortmund einen 16-Jährigen mit fünf Schüssen getötet hat, fragen sich viele noch immer: Musste Mouhamed D. wirklich sterben? Hätte man die Situation nicht auch anders lösen können?

VorfallMontag (8. August)
TatortHolsteiner Straße
AkteuerePolizei Dortmund, Jugendlicher (16)

Polizei-Schüsse auf 16-Jährigen in Dortmund: Insider verteidigt Polizei

Gegenüber RUHR24 hat sich nun ein Branchenkenner geäußert. Er gibt an, nicht mit Namen genannt werden zu wollen, weshalb er im Folgenden das Pseudonym „Arnd Vollberg“ erhält.

Vollberg selbst gibt an, seit 13 Jahren praxisorientierte Selbstverteidigung zu trainieren und diese seit sechs Jahren auch zu lehren. Zu seinen Schülern würden auch Polizisten gehören, die sich in ihrer Grundausbildung nicht ausreichend in der Selbstverteidigung ausgebildet fühlten.

Möglicher Schuss ins Bein von 16-Jährigem in Dortmund laut Insider eine „haarsträubende Fehlannahme“

Mit dem häufig genannten Argument, ein Schuss ins Bein des 16-Jährigen hätte gereicht, um ihn außer Gefecht zu setzen, räumt Vollberg direkt auf und bezeichnet diesen Wunsch als „haarsträubende Fehlannahme“ und „völlig illusorisch“.

Auf das Bein zu zielen und zu treffen, während der 16-Jährige mit einem Messer auf den Polizisten zurennt, „wäre unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn“, so der Selbstverteidigungsexperte gegenüber RUHR24.

Der Dortmunder Polizist hatte den Jugendlichen aus drei Metern Entfernung erschossen und diesen in Schulter, Kiefer, Unterarm und Bauch getroffen. Zuvor war die Polizei an die Holsteiner Straße gerufen worden, weil der 16-Jährige mit einem Messer in der Hand suizidale Absichten geäußert habe.

Im Laufe des Einsatzes der Dortmunder Polizei sei es dann zum Einsatz eines Tasers (Elektroschocker) und zum Versprühen von Reizgas gekommen. Danach seien aus einer Maschinenpistole sechs Schüsse abgegeben worden, fünf davon auf den Jugendlichen.

Schüsse von Dortmunder Polizisten auf 16-Jährigen „unerlässlich“

Dass der Polizist mehrere Schüsse abgab, empfindet Vollberg als „unerlässlich“, da der Polizist nicht die Zeit gehabt hätte, zu überprüfen, ob die vorherigen Schüsse gesessen hätten und Wirkung gezeigt hätten. „Die Vorstellung, in solch einer Zeitspanne nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen, ist absolut abwegig“, so der Selbstverteidigungs-Experte.

Vielmehr müsse ein Polizist die Entscheidung, zu schießen, bereits vorher treffen und könne dann bei einer plötzlichen Handlung des Gegenübers nur noch gemäß der bereits getroffenen Entscheidung reagieren.

Nach fünf Schüssen auf einen Dortmunder (16) gibt es Kritik – aber auch Rückenwind für die Polizei.

Im Falle des 16-jährigen Dortmunders habe laut Vollberg wohl erst der Schuss in den Bauch die Wirkung gehabt, den Jugendlichen „kampfunfähig“ zu machen. Die Schüsse in den Arm, den Kiefer und die Schulter seien zunächst nur „schmerzverursachend“ gewesen, zumal sich der 16-Jährige unter Adrenalin stehend in einer Ausnahmesituation befunden haben muss.

Tödliche Schüsse durch die Polizei Dortmund: Bein wäre nur bei stehendem Ziel realistisch gewesen

Vollberg resümiert also: „Rückwirkend betrachtet war die Verwendung dieser Waffe also tatsächlich die richtige Entscheidung.“ Dennoch gibt er zu, dass ein Schuss aufs Bein hätte Sinn ergeben können – im Falle, dass sich der 16-Jährige nicht auf den Polizisten zubewegt hätte. Dann hätte die Dortmunder Polizei aber auf den Jugendlichen direkt zu Einsatzbeginn schießen müssen. „Dass so ein Vorgehen nun wirklich nichts mit Deeskalation zu hätte, versteht sich von selbst“, meint Vollberg.

Der Selbstverteidigungs-Experte attestiert selbst Kollegen aus der Branche „sehr merkwürdige Vorstellungen“ von Entwaffnung. Methoden wie das Wegtreten des Messers aus der Hand des Bewaffneten bezeichnet Vollberg als „realitätsfern“. Bei diesem Thema gäbe es eine „romantische Verklärung“, die auf Beobachtungen aus Actionfilmen zurückzuführen sei.

Polizei Dortmund setzt Taser gegen 16-Jährigen ein – später folgen tödliche Schüsse

Und was sagt Vollberg zum Thema Taser und Reizgas? Die Dortmunder Polizei hatte es bei ihrem Einsatz in der Nordstadt zunächst mit diesen Mitteln versucht – offenbar vergebens. Die Eskalation in dieser Reihenfolge sei „grundsätzlich richtig“ gewesen. Allerdings attestiert Vollberg sowohl Reizgas als auch Taser in einer Situation wie jener in der Nordstadt nur mäßige Durchschlagskraft.

Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange kündigte nach den Schüssen in der Nordstadt an, den Dialog mit muslimischen, aber auch anderen Gemeinden in der Nordstadt zu intensivieren.

So müsse das Reizgas, das man als Strahl oder als Spray einsetzen kann, gezielt auf die Augen gesprüht werden, um Menschen unter Adrenalin und eventuell auch Drogen wirkungsvoll zu stoppen.

Taser-Wirkung „fast lächerlich“: Insider verteidigt Polizei Dortmund nach tödlichen Schüssen

Die Wirkung eines Tasers bezeichnet Vollberg indes als „fast lächerlich“ – zumindest jene, die auf dem freien Markt für Zivilpersonen erwerbbar seien. Bereits eine Lederjacke würde den Effekt deutlich abschwächen. Hinzu komme, dass es schwierig sei, ein sich bewegendes Ziel damit zu treffen. Bei einem Fehlschuss würde es zu lange dauern, den Taser nachzuladen – wohlgemerkt mit einem Menschen, der mit einem Messer bewaffnet auf den Polizisten zurenne.

Bei allem Verständnis für die fünf Schüsse auf den Körper des 16-Jährigen gibt aber auch Vollberg zu, dass die Situation möglicherweise schon deutlich vor der Schussabgabe hätte geklärt werden können. So bezeichnet er die Ausbildung der Polizei im Hinblick auf körperliche Auseinandersetzungen als „schlecht“. Und auch die psychologische Ausbildung von Polizisten lasse „zu wünschen übrig.“

Nach tödlichen Schüssen in Dortmund – Professor aus Bochum kritisiert Polizei

Zuletzt hatte auch der Bochumer Kriminologe Professor Thomas Feltes von der Ruhr-Universität die Dortmunder Polizei in dieser Hinsicht kritisiert. Zunächst habe bereits der Einsatz bzw. das Zeigen der Maschinenpistole zur Eskalation geführt, außerdem hätte die Dortmunder Polizei im Umgang mit dem psychisch auffälligen Jugendlichen einen Psychologen oder Psychiater einsetzen müssen.

Arnd Vollberg sieht das Auftreten der Polizei grundsätzlich problematisch. Beamten würden oftmals versuchen, Menschen in psychischen Ausnahmesituationen mit „autoritärem Gebaren zu beruhigen“. Das könne in Ausnahmen funktionieren, in den meisten Fällen allerdings nicht. Vollberg fordert daher eine bessere Ausbildung der Polizei.

Sein Fazit: Nicht der Umgang der Dortmunder Polizei mit der tatsächlichen Situation des Angriffs sei fehlerhaft gewesen, sondern vielmehr die Faktoren, die zur Entstehung dieser Situation geführt hätten.

Rubriklistenbild: © Olaf Döring/Imago, Markus Wüllner/News4Videoline; Collage: RUHR24

Mehr zum Thema