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Ansturm auf Bochumer Tafel in der Krise: „Früher war der Wagen voll“

Dass die Menschen unter Inflation und Energiekrise leiden, spürt man vor allem bei den Tafeln. Doch die Stimmung an der Bochumer Tafel überrascht.

Bochum – Sie sind in dicke Jacken eingepackt, haben die Blicke hoffnungsvoll auf den Eingang gerichtet, die Gedanken sehnsüchtig um das kreisend, was in den kommenden Tagen hoffentlich ausreichend den Magen füllt: Die Schlange der wartenden Menschen vor der Essensausgabe der Bochumer Tafel in Wattenscheid hat an diesem Donnerstagmorgen etwas Gespenstisches.

Lange Schlangen vor der Essensausgabe der Bochumer Tafel in Wattenscheid

Die Männer und Frauen treten mal mehr, mal weniger geduldig von einem Bein aufs andere. Atemschwaden ziehen in der klirrenden Kälte über ihre Köpfe hinweg. Noch müssen sie sich gedulden. Erst um 10 Uhr, also in rund einer Stunde, öffnet die Tafel an der Laubenstraße 19 ihre Pforten.

Die Lebensmittel, die sich verheißungsvoll in grünen Kisten inmitten der Lagerhalle der Bochumer Tafel türmen, sind durch zwei durchsichtige Streifenvorhänge schemenhaft erkennbar. Es kann also nicht mehr lange dauern, bis die Essensausgabe beginnt. Noch ist es still, nur vereinzelt sind Gesprächsfetzen zu vernehmen – die Ruhe vor dem Sturm.

In der Lagerhalle herrscht Kontrastprogramm. Emsig laufen Ehrenamtler und Angestellte der Bochumer Tafel zwischen den Kisten mit Obst, Gemüse oder abgepackten Fertigprodukten hin und her und befüllen sie mit den verschiedensten Produkten. Vor allem frisches Gemüse wie Kohl, Zwiebeln oder Salate sorgen hier für einen intensiven Geruchscocktail.

Bochumer Tafel kämpft mit großem Andrang – Aufnahmestopp ist die Folge

„Frische Ware ist aktuell sehr gefragt“, erklärt Stefan Schulze, Vorsitzender der Tafel Bochum und Wattenscheid. Die Tour eines jeden Kunden ende meistens mit mindestens einer vollen grünen Kiste, sagt er, während er den Blick auf die großen, weißen Kühlhäuser am Rande des Lagers schweifen lässt.

Dass die Schlangen draußen vor dem Einlass immer länger werden, komme nicht von ungefähr. Wegen der Inflation und des Ukraine-Kriegs, in dessen Folge auch viele Kriegsflüchtlinge zur Bochumer Tafel kommen, spitzt sich die Lage an der Essensausgabe der Tafel immer weiter zu.

Der Aufnahmestopp für Neuregistrierungen bereitet Schulze sichtlich Unbehagen, etwas betreten schaut er zu Boden. Doch an ihm führte angesichts des immensen Ansturms kein Weg vorbei.

Um Lebensmittel an der Bochumer Tafel zu bekommen, müssen sich die Besucher vorher registrieren lassen. Wegen großen Andrangs gibt es einen Aufnahmestopp.

Sach- und Geldspenden sind in der Bochumer Tafel während der Krise jederzeit willkommen

Nicht nur an den beiden Ausgabestellen der Bochumer Tafel fehlt es an Personal und vor allem an Lebensmitteln. Die Supermärkte und Discounter beliefern die Tafeln in Krisenzeiten mit immer weniger Ware. Mehr denn je ist der Verein auf Sach- und Geldspenden und auf ehrenamtliche Helfer angewiesen.

Doch auch für kleinere Mengen fahren die Helfer mit einem der zehn Kühlfahrzeuge der Tafel Bochum-Wattenscheid raus, versichert Stefan Schulze. Sein Blick und sein entschlossener Gang durch das Lager zeugen von einer „Jetzt erst recht“-Mentalität.

Einkauf bei Bochumer Tafel kostet Bedürftige insgesamt 4 Euro – Obolus hat etwas mit Würde zu tun

Hinter einem kleinen Tisch am Eingang der Tafel in Wattenscheid laufen die letzten Vorbereitungen vor dem großen Ansturm. Bevor es an die begehrten Lebensmittel geht, müssen die Kunden der Bochumer Tafel hier einchecken.

Erst dann können sie mit ihrem Einkaufswagen scharf links abbiegen und sich für insgesamt vier Euro mit Lebensmitteln eindecken. Dieser kleine Obolus für den Einkauf sei für viele wichtig, um – wie jeder Supermarktbesucher auch – „würdevoll einkaufen zu können“, erklärt Schulze.

Frische Waren wie Obst oder Gemüse sind bei den Besuchern der Bochumer Tafel sehr beliebt.

Der Blick auf Kohl und Kartoffeln stimmt Reiner Jahberg nachdenklich. „Am Ende muss man für alle etwas haben“, findet der 68-Jährige, der ehrenamtlich in der Bochumer Tafel aushilft. Obwohl durch den Ukraine-Krieg mehr Leute zur Tafel kommen, sei die Stimmung hier immer „sehr gut und entspannt“. Das bestätigen auch andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Bedürftige sorgen bei Bochumer Tafel trotz großer Nachfrage für eine gute und entspannte Atmosphäre

Das bleibt auch in dem Moment so, auf den die Menschen draußen teils stundenlang gewartet haben. Pünktlich um 10 Uhr betreten die ersten Bedürftigen das Lager. Ihre Blicke schweifen neugierig über die lange Theke, auf der sich die noch üppig gefüllten Lebensmittelkisten befinden.

Besonders auf Kartoffeln, Blumenkohl und Joghurt freuen sich zwei Ukrainerinnen, die sich angesichts des sichtbaren Fortschritts im Eingangsbereich lächelnd Schritt für Schritt nach vorne bewegen. „Die Bochumer Tafel hier ist sehr gut, ich kann mich nur für die große Hilfe bedanken“, erklärt Alla, während sie den nahen Eingangsbereich fest im Blick behält.

Viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kommen zur Essensausgabe der Bochumer Tafel

Im April floh sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Hund vor den russischen Raketen aus Kiew und fand im Ruhrgebiet eine Bleibe. „Uns Ukrainern gefällt die Tafel“, sagt sie weiter in gebrochenem Deutsch, während ihre Landsleute um sie herum eifrig nicken.

Dass der in der Ukraine so beliebte Buchweizen in der Bochumer Tafel fehlt, sei zwar „schade“, aber kein Beinbruch für sie. Plötzlich geht es für sie und ihre Begleiterinnen schnell weiter nach vorne. Entspannung mischt sich zusehends in die durchgefrorenen Mienen.

Lage an der Essensausgabe der Bochumer Tafel hat sich seit 2022 verändert – Kundin gibt Einblick

Ein kleines Stück dahinter sitzt die Bochumerin Nadine Möller in eine dicke Jacke eingepackt auf einer kleinen Bank und blickt gelassen in Richtung des Eingangs der Essensausgabe. Für die 45-Jährige ist das Warten längst zur Gewohnheit geworden. Seit etwa anderthalb Jahren kommt sie zur Bochumer Tafel.

Doch auch sie hat die Veränderungen im Jahr 2022 zu spüren bekommen. „Früher war der Einkaufswagen nach der Essensausgabe immer voll, jetzt aber nicht mehr“, erklärt sie mit beinahe stoischer Gelassenheit.

Umso wichtiger sei es, drei bis vier Stunden früher hier zu sein, bevor die Bochumer Tafel ihre Pforten öffnet. Umstehende drehen sich um, einige pflichten ihr bei. „Als Letzter kriegt man hier seit dem Ukraine-Krieg nichts mehr. Aber nicht nur wegen der Lebensmittel sind die Leute hier“, erklärt sie.

An der Essensausgabe der Bochumer Tafel in Wattenscheid müssen die Lebensmittel infolge der Krise rationiert werden.

Besucher der Bochumer Tafel teilen inmitten der Krise ein ähnliches Schicksal

Die neugierigen Blicke von links und rechts sind auf Nadine Möller gerichtet, kurz herrscht beinahe eine Totenstille. „Naja wir sind doch auch zum Quatschen hier. Ist doch so, oder?“, blickt sie fragend in die Runde. Die Reaktion der Umstehenden darauf fällt eindeutig aus. Alle nicken und pflichten ihr bei. Man kennt, schätzt und hilft sich.

Die Schlange vor der Bochumer Tafel ist eben auch ein Ort, an dem die Sorgen und Nöte des Alltags Gehör finden – und wohl besser als irgendwo sonst verstanden werden. Mitarbeiter berichten, dass einige Kunden sogar weniger Lebensmittel haben wollten, damit sich noch weitere Menschen registrieren lassen können. Die Solidarität untereinander ist groß.

Die entspannte Atmosphäre und der respektvolle Umgang sind auch an diesem kalten Morgen in der Schlange vor dem Einlass greifbar. Während die 45-jährige Bochumerin ihren Blick über die Schlange schweifen lässt, erwidern viele ihr Lächeln. Eine Ukrainerin streichelt ihr über den linken Arm und bedankt sich nochmal für vergangene Hilfe.

Bedürftige müssen mit immer weniger Lebensmitteln der Bochumer Tafel auskommen

„Ich komme jedenfalls gerne hier hin, denn das Essen zu Hause wird halt knapp“, erklärt Nadine Möller, den Blick wieder deutlich ernster in Richtung des Tafel-Eingangs gerichtet. „Mittlerweile kann man sich einen Einkauf, der früher 20 Euro gekostet hat, nicht mehr leisten – das kostet doch jetzt alles das Doppelte“, winkt sie resignierend ab.

Vor ihr kommt immer mehr Bewegung in die Schlange, die Ukrainerinnen sind in wenigen Minuten dran. „Man freut sich ja über jedes Bisschen, das man hier noch bekommt. Früher ist man zum Beispiel häufig mit fast 15 Tomaten nach Hause gegangen, heute sind es nur noch zwei oder drei“, erinnert sie sich.

Während man in besseren Zeiten rund eine Woche mit den Lebensmitteln der Bochumer Tafel hinkam, seien es heute nur noch etwa drei bis vier Tage. Besonders Gemüse sei hier sehr beliebt, versichert sie. Fleisch hingegen bekäme man hier so gut wie gar nicht mehr.

Nicht nur in Bochum ist der Andrang von Bedürftigen auf die Tafeln nach dem Beginn des Ukrainekrieges groß (Symbolbild).

Bestimmte Lebensmittel sind an der Essensausgabe der Bochumer Tafel kaum noch erhältlich

Nun ist auch Nadine Möller endlich dran. Routiniert schnappt sie sich einen Einkaufswagen und eine leere, grüne Kiste. Schnell ist sie mit den Mitarbeitern der Bochumer Tafel in Gespräche verwickelt. Hier und da hört man sie lachen, es werden Insider ausgetauscht. Selbst in der Krise gibt es schließlich hin und wieder etwas zu lachen.

Die Schlange hinter ihr reicht mittlerweile quer über den großen Hof bis auf die Straße – und stetig kommt neue Kundschaft dazu. Noch sind die Kisten an der Ausgabestelle voll. Doch das wird sich in den nächsten Stunden schnell ändern – wie jeden Tag bei der Tafel in Bochum.

Rubriklistenbild: © Julian Kaiser/RUHR24

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